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Im Flaneur feierte die Schaulust ihren Triumph:

Diese "Verflüchtigung der Dinge" wurde jedoch nicht nur beim Reisen erfahren, sondern ebenso im großstädtischen
Verkehr. Stellten Fotografie und der so genannte panoramatische Blick (auf den ich an anderer Stelle noch
eingehender zur sprechen komme) noch eine Abstand gebende und sichernde Distanz her, so musste das Auge
in der großstädtischen Menge unweigerlich der Schnelligkeit und Unübersichtlichkeit der Bewegungen folgen
(wenn auch mit wenig Erfolg) --- oder, als neue Seh-Natur, sich im ziellos schweifenden Blick an der Bewegung
berauschen.

Im Flaneur feierte die Schaulust ihren Triumph
Durch die Unmöglichkeit, sich den permanenten Schock des großstädtischen Erlebens zu entziehen und einen
Ruhepunkt in der Tag und Nacht zirkulierenden Menge herzustellen zu können bildeten sich neue Apperzeptions-
weisen aus. Mit der Einrichtung von Passagen, jenen glasgedeckten, marmorgetäfelten, ausschließlich dem
Fußgänger vorbehaltenen Zonen, entwickelte sich die Flanerie als Ausdruck der unendlich vervielfältigten sozialen
Kontakte, also einer bisher unbekannten Nähe, bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, diese, wie etwa in der dörflichen
Gemeinschaft, andauern zu lassen."

Der Flaneur, der sich gerne sein Tempo von Schildkröten vorschreiben ließ, die er in den Passagen des
"Vor-Hausmannschen-Paris" spazieren führte, stellte sich oberflächlich betrachtet zunächst als Protestfigur gegen
die steigenden Geschwindigkeiten der Zirkulation von Menschen und Waren und den unmenschlichen Verkehr dar.
Auf der Ebene des Blicks war er jedoch auf das Engste mit dieser großstädtischen Zirkulation verbunden, war deren
Produkt.

In der Haltung des so Genießenden ließ er das Schauspiel der Menge auf sich einwirken.
Dessen tiefste Faszination lag aber darin, ihm im Rausch, in welchen es ihn versetzte, die schreckliche
gesellschaftliche Wirklichkeit nicht zu entrücken; so zwar, wie Berauschte wirklicher Umstände noch bewusst
bleiben. Im Eingehen in die Zirkulation, im Schlendern durch die Passagen, gab sich der Flaneur ganz den
Lustmomenten hin, die die neue Betriebsamkeit innehatte. Dort fand er sein Glück, "das Glück dabei gewesen zu
sein". Er berauschte sich an und in der Menge. In deren Anonymität und Identitätslosigkeit tauchte er ein.
Er gab sich dem "Genuss an der Vervielfältigung der Zahl" hin, bewahrte aber dennoch eine gewisse
Abgeschlossenheit, Identität, und Distanz.

Der schlichte Flaneur ist immer im vollen Besitz seiner Individualität, die des "badaud", des einfältigen Gaffers,
dagegen verschwindet. Sie wird von der Außenwelt aufgesogen. Diese berauscht ihn bis zur Selbstvergessenheit.
Unter dem Einfluss des Schauspiels, das sich ihm bietet, wird der "badaud" zu einem unpersönlichen Wesen; er ist
kein Mensch mehr; er ist Publikum, er ist Menge.
Auf der Ebene des Blicks, wenngleich auch auf einem "höheren" Niveau, ist der Fernsehzuschauer ein moderner
Flaneur: Hier macht das Medium den Blick schweifend; der Programm- und damit Ortswechsel per Fernbedienung
entbindet den"tele-flaneur" auch noch von der letzten Eigenbewegung.

Der Flaneur bewahrt Distanz, indem er beobachtete.
Das Bild der Stadt aber, das die Glücksmomente seines Rausches verursachte, wurde nicht in seiner Klarheit und
Härte wahrgenommen, sondern war verschleiert durch die Masse, die auch das Grauenhafte noch bezaubernd
wirken ließ.

Die Wahrnehmungsweise des Flaneurs war der ziellos schweifende Blick, der sich an der anonymen Bewegung
berauschte --- der "tele-flaneur" lässt sich berauschen, sein Blick ist erstarrt. Aus dem "Akteur" ist ein Zuschauer
geworden, der die Welt als Flut medial vermittelter Bilder nimmt.

Roland Barthes beschreibt in einem ähnlichen Zusammenhang einen jungen Mann, der im Cafe in seiner Nähe
sitzend, seinen Blick schweifen liess. Barthes bemerkt, wie der Blick des jungen Mannes auch manchmal auf ihn
fiel, der Mann ihn dabei zwar "ansah" , aber offensichtlich doch nicht "sah". In diesem schweifenden Blick offenbart
sich für Barthes das "Paradox der Fotografie", die ebenfalls Beobachtung und Wahrnehmung zu trennen scheint,
und nur "erstere in Bild setzt, obwohl sie ohne letztere nicht denkbar ist.

In der Begrifflichkeit Walter Benjamins bleibend, war die Wahrnehmung des Flaneurs nicht auf "Erfahrung" gerichtet,
welche an die Vorstellung von Kontinuität, Gewohnheit und Dauer gebunden ist, sondern auf das diskontinuierliche
"Erlebnis" als neue großstädtische Erfahrung.

Von wem der Hinweis kam, dass "Ereignis" vom Wortstamm in direkter Beziehung steht zu "Äugnis", kann ich nicht
mehr genau sagen. Wichtig scheint mir jedoch, dass sich darin ausdrückt, das das Auge primär betroffenes Organ
ist.

Sich durch den Großstadtverkehr zu bewegen, bedeutete für den einzelnen eine Folge von Chocks und Kollisionen.
An den gefährlichen Kreuzungspunkten durchzuckten ihn, gleich Stößen einer Batterie, Innvervationen in rascher
Folge. Baudelaire spricht von dem Mann, der in der Menge eintaucht wie in ein Reservoir elektrischer Energie.
Er nennt ihn bald darauf die Erfahrung des Chocks umschreibend, "ein Kaleidoskop, das mit Bewusstsein versehen
ist."

Die Berührung mit der zirkulierenden Menge, die Abfolge der Moment-Entrückungen, in denen sich der Passant
zu verlieren drohte, die Eindrücke, von denen er unverhofft bestürmt wurde, werden als Schockerlebnis beschrieben,
das für die Verschiebung von "Erfahrung" zugunsten von "Erlebnis" als neue Erfahrung ausschlaggebend ist.
Je größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewusstsein im
Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muss, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein, desto eher
erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses."

Der Rausch des Flaneurs, "das Glück dabei gewesen zu sein", bestand also auch darin, so könnte man sagen,
das "Bewusstsein im Interesse des Reizschutzes" ständig in lustvoller Alarmbereitschaft und Erwartungshaltung
vor dem Unerwarteten zu halten.

Dies scheint auch die Lust dessen, der sich wirklich auf Reisen befindet, in der "Existenzform der Vorläufigkeit,
der institutionalisierten Improvisation.


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