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Ausstellungen




Ausstellung: "Aufrechter Gang 2"  I  Ausstellungsbeitrag "Körperbilder"  I  
Gruppenausstellung, 13.-27.03.2005,
Eastside Gallery in der ehemaligen Salzmann-Fabrik, Kassel, 


   Ausstellung / Impressionen

   Presse: > Die Schönheit des Ungewohnten<
        Vier Künstler stellen zum Thema "Aufrechter Gang" in der Eastside Gallery aus
        Hessisch-Niedersächsische -Allgemeine / HNA /
       19. März 2005

   ESSAY zur Einführung in die Ausstellung "Aufrechter Gang II "
      von Juliane Gallo  
©

Juliane Gallo:   Essay zur Einführung in die Ausstellung >Aufrechter Gang II<

Der aufrechte Gang ist ein wesentliches Ziel der Menschwerdung, schrieb der Philosoph Ernst Bloch.

Das, was den Menschen von anderen Säugern unterscheidet, ist sein aufrechter Gang. Im Laufe der Evolution löste er sich
ein Stück von seiner Erdverhaftung und rückte dem ‚Himmel’ dadurch näher.
Heute durchläuft ein Heranwachsender quasi im Zeitraffer wesentliche Schritte menschlicher Stammesgeschichte.
Der hochkomplexe und funktionale Stütz – und Bewegungsapparat unterstützt seine körperliche ‚Aufrichtung’.
Spricht man von emotionaler ‚Aufrichtung’, meint man ‚Aufrichtigkeit’ – zu sich und seinen Gefühlen stehen, gerade, direkt,
ehrlich, eigenverantwortlich, selbstbewusst. Idealerweise geschieht dies zeitgleich.

Aufrichtung ist demnach immer ein Wahrheitsfindungs – und Bewußtwerdungsprozeß. Interessant ist daran das ‚Prozeßhafte’ –
ergo ein andauernder Vorgang, der möglicherweise nie abgeschlossen sein kann oder will und Schwankungen unterliegt oder ‚Behinderungen’,
wie sich zeigen wird. Bei Lichte betrachtet, hier und jetzt, konstatiere ich, dass der aufrechte Gang oft der unbequemste ist. (Erfahrungswert.)

In unserer globalisierten technokratisch – massenmedialen Leistungsgesellschaft scheint alles möglich, sofern der Schein gewahrt ist.
Der Schein ist ein Ideal, oder besser: das Bild eines Ideals. Angenommen, unser Ideal wäre Selbstbestimmung, als Voraussetzung
für Aufrichtung und Entfaltung – wir träfen sehr schnell auf limitierende Faktoren, die wir nicht bedachten, weil unsere rudimentäre
stammesgeschichtliche Vorsehung sich rührte (nach dem Motto. ‚Sei der du bist’), oder wir wären - gesegnet mit einem ‚gerüttelt Maß’ an Naivität
(was in unserem Sprachgebrauch eher negativ konnotiert, ins Positive gewendet bedeutet: Ursprünglichkeit, Natürlichkeit oder Treuherzigkeit) –
also weltfremd oder ignorant.

Wir sind ‚natürlich’ sozialisiert, d.h. wir haben ‚wunderbar’ perfekt sämtliche Strukturen und Bilder verinnerlicht, nur so, das haben wir gelernt,
können wir mit – schwimmen. Aber schwimmen ist eher horizontal, wenn auch geschmeidig, fließend, flexibel, aerodynamisch…
wieso „aber“ – es ist ‚ideal’: weitgehend ungefährlich, in unmittelbarem Kontakt mit dem Element (Wasser), verschwimmen die Konturen,
Behäbigkeit und Starre verkehren sich ins Gegenteil. Schmerz erscheint erträglicher, Verletzungen, Narben – äußerlich und innerlich –
weniger wahrnehmbar, ‚Zipperlein’, Alter, Übergewicht, sozialer Status, innere Haltung, Größe – unwichtig…!
Bis wir irgendwo ankommen – an dem verletzbaren Ort, und uns selbst wieder spüren: als einen anderen Körper.

Namen für den Körper, welcher anders ist als die Norm, gibt es viele: deviant, deformiert, versehrt, behindert, fragmentiert, abnormal, grotesk, anders…
Und daraus ergibt sich, wie der Körper wohl sein muss: intakt, kompakt, perfekt, schön, wohlgeformt, gesund und ganz.
Unantastbar, unversehrt, unsterblich?

Es ist eigenartig: Will man unser Bild des ‚normalen’ Körpers beschreiben, verrutscht es unversehens ins Ideale und umgekehrt
gleitet dem beschreibenden Zugriff das Bild des ‚nicht – normalen’ Körpers ins Verächtliche und Abjekte ab.
(Anglizismus: abject – verworfen, gemein, niedrig)
Wenn Worte fehlen greifen wir zur Metaphorik: Über die Sichtbar- oder Unsichtbarmachung von Bildern (in den Medien) manifestieren sich
mentale Bilder – ein Mensch im Rollstuhl wird beispielsweise in den Tageszeitungen fast immer vor einer unüberwindbaren Treppe gezeigt,
‚alte Menschen’ werden, wenn überhaupt,“ für die Broschüre einer Lebensversicherung gebraucht“, wie Frank Hellwig ausführt;
Krankheit und Siechtum auf Randgruppen abgewälzt oder weit weggezerrt in die Peripherie - in eine III.Welt.
Gleichzeitig wird der westliche Durchschnittsmensch, lt. Spiegel (1995), rund zwölf Mal am Tag mit dem Anblick eines ‚models’ konfrontiert.
(Rund 200 hauptberufliche ‚models’ – so die Untersuchung weiter – halten 120 Millionen Amerikanerinnen in Schach.)

Diese ‚seelenlosen Kleiderständer mit Kultstatus’ tragen den Mythos von Machbarkeit in die Welt: der Körper, mit dem man geboren wird,
ist nicht länger Schicksal sondern unterliegt einer planbaren Perfektionierung, sofern der Besitzer dieser ‚Basismaterie’ ausreichend Energie
aufzuwenden vermag. Damit gerät jedwede Abweichung von der ‚Ideal – Norm’ ins Abseits – nein ins Nichts –
ins ‚Nicht – Existente’, denn gleichzeitig mit der Reproduzierbarkeit der Bilder durch Fotografie, verschwinden Bilder.

                      

Das manipulierte Endprodukt zeigt eine perfekte Körperhülle und suggeriert ‚Lifestyle’, aber auch: wenn du alt bist, dick,
oder etwa nicht gesund und fit, dann ist es dein persönliches oder charakterliches Versagen.

Niemals spricht diese Botschaft aus den Bildern der hier ausstellenden Künstler.
Sie zeigen den fragmentierten Körper als den verletzbaren Ort (der er ist), aber auch seine Gestaltungskraft.
Hier geht es um das ästhetische Potenzial in der Konfrontation des unversehrten Körpers mit seiner Verletzbarkeit.

Die bildende Künstlerin Kornelia Roth präsentiert in der Tat ausgesprochen ästhetische Bildkompositionen, farblich reduziert
und harmonisch, formal ausgewogen. Wahrhaft schöne Fotografien, geradezu attraktiv, wäre da nicht…oder gerade weil… etwas irritiert.
Die abgebildete Identifikationsfigur – der Mensch – erscheint barhäuptig.

„Pelona“ (kahl) ist das Wort, das die Malerin Frieda Kahlo in ihren Briefen an Diego Rivera für den Tod benutzt.
Sowohl in ihrem Werk und – wir erahnen es, auch bei Kornelia Roth – bezieht sich die psychische Eindringlichkeit der ‚Barhäuptigkeit’
auf den traditionellen Bedeutungsgehalt des Haars. Historisch am Prägnantesten manifestierte er sich im Haaropfer; das Haar galt als Sitz
der Lebenskraft. Der kahlgeschorene Kopf dagegen bedeutete seit dem Altertum öffentliche Schande, galt als Zeichen der Versklavung.
Hexen schor man, um ihre angebliche Macht zu brechen. Novizinnen und Mönchen schert man das Haar beim Eintritt ins Kloster als
Ausdruck der Demut und zugleich der willentlichen Erniedrigung.
Keineswegs erniedrigt wirken Kornelia Roths Frauengestalten – eher würdevoll, androgyn vielleicht und esoterisch (d.h. nur Eingeweihten zugänglich!).
Sie erscheinen von unnatürlicher Leichtigkeit ‚beseelt’, durchsichtig und verletzlich. Es bedarf einer besonders sensiblen Wahrnehmung
um ihre Individualität herauszulesen – Gefühl, Empfindung stellt sich jedoch unvermittelt ein. Das Sehen erzeugt hier Berührung.

Nicht der drastische Schock, den ein Mensch erfährt, der lebensbedrohlich, möglicherweise unheilbar erkrankt ist, wird thematisiert,
sondern etwas Unfassbares, das den Betrachter mit Ehrfurcht erfüllt: ‚das Umarmen dessen, was man am meisten fürchtet’.
Dunkelheit! Schmerz! Tod!

Absurd klänge der Vorschlag, jeder solle sich stets ein ‚Bild der Furcht’ auf den Schreibtisch stellen, wie es im Barock durchaus üblich war –
Vanitassymbole, Sanduhren, in feinstem Kunsthandwerk gearbeitete Särge, skelettierte Körper –
oder wenigstens die ‚Idee’ Christian Boltanskis aufgreifen, der 1970 mit seiner Arbeit ‚Vitrine de référence’ (Vitrine der Beziehungen) intendierte,
die Erinnerung an einen zurückliegenden Lebensabschnitt wachzurufen. Er präsentierte ein dichtes Büschel schwarzen, krausen Haars auf einem
kleinen weißen Tuch, versehen mit der Beischrift: „Cheveux de Christian Boltanskis dans un morceau de tissue blanc envoye à 60 personnes en octobre 1969“.
Man habe sich die Haare, so Boltanski später, als sein körperliches Relikt vorzustellen „eine Zeremonie des Abschieds von Anfang an“.
Boltanski wird zu einer Gruppe von Künstlern gezählt, die als „Spurensicherer“ bezeichnet wurden.

Fotografen sind auch oder ,per se’ Archäologen der Erinnerung – sie halten gefundene Spuren fest. Jeder, der ein mechanisches Instrument zwischen
sein Auge und ein wahrgenommenes Objekt schaltet, handelt subjektiv und wählt aus.
Nach Auftrag oder persönlichem Empfinden. Der Darstellung des Alltäglichen fällt dabei eine wichtige Rolle zu – die Spiegelung.
Ein Genrebild neigt mit seinem erzählenden Stil zum Lehrhaften, es will das Leben nicht idealisieren und zeigt auch die kleinen Dinge, wie bei Frank Hellwig?

Der freie Fotograf Frank Hellwig erzählt in seiner Bilderserie von gelebtem Leben, vom ‚Da – Sein’ im Alter – was vielleicht schon heißt: am Rande?
Graustufen symbolisieren hier nicht nur ‚Grauzone’, ‚grauer Alltag’,’ Gleichmütigkeit’, ‚Unschärfe’ sondern fordern zu genauerem Hinsehen auf.
In seinen begleitenden Essays führt Frank Hellwig sehr persönlich aus, in welcher Weise sein Kontakt mit den ‚Alten’ seine Wahrnehmung verändert hat
und sein Nachdenken oder sollte man sagen ‚Vordenken’ in Richtung ‚Endlichkeit’.

Was bleibt?
Einsam, zweisam, gemeinsam altern wir alle – dennoch sind seine Bilder nicht gleichzusetzen mit ‚memento mori’.
Es sind Begegnungen mit der Wirklichkeit, nicht Inszenierungen eines oder mehrerer ‚images’.
Das Bild und der darauf abgebildete Mensch will nicht mehr sein, als er ist.

                    

Es sind nicht etwa Charakterstudien – völlig unspektakulär zeigen die Fotografien die verborgenen, weil unbeachteten Seiten menschlicher Existenz.
Spannungsreich durch den Bezug ‚Raum/ Mensch’, die starke Reduktion der Bewegung, die noch nicht eingefroren scheint und den Verzicht auf
Manipulation, z.B. der Emotionen, die sich beim Betrachter einstellen könnten.
Frank Hellwig hält kein euphorisches Plädoyer für das Alter oder das Altern (uns wird ja täglich suggeriert, man könne es sich aussuchen…) –
diese Bilder befriedigen ein essentielles Bedürfnis des Menschen nach ‚Gesehen werden’, d.h. Beachtung.

Die multimediale omnipräsente schöne bunte Bilderwelt impliziert ja gleichzeitig gesellschaftliche Tabus – das was nicht sein darf:
so z.B. Alter und Tod, Gewalt und Missbrauch, Verzweiflung und Schmerz, Scheitern.
Weil soviel Energie aufgewendet wird, das System und damit die Fassade vom ‚schönen Schein’ zu erhalten wird es immer schwieriger
‚zwischen den Zeilen zu lesen’. Da braucht es Impulse für ‚Zwischenbilder’.

Erstaunlicherweise findet die Berliner Künstlerin Petra Kirchner diese gemeinhin absenten Bilder auf dem Fernsehschirm.
Sie schöpf aus der unendlichen TV – Bilderflut, ihrem eigenen Bilderarsenal und erarbeitet letztlich mit dem Betrachter gemeinsam die Stimmung,
die Wirkung, den Verlauf der ‚Erzählung’.
Der ‚Ist – Zustand’ des Bildes ist immer die Folge von etwas, so scheint es; von was und wie? Etwas Unbeschreibbares, schwer Fassbares,
Verborgenes, Tiefes, Dunkles. Die verzerrende Wirkung des Fotos vom Bildschirm verursacht – anders als ein Film – ‚still’, eine gesteigerte Verunsicherung:
Konturen und Kontraste verwischen oder intensivieren sich, bestimmte Details treten hervor, andere werden marginal.
Die vibrierende Oberfläche bleibt durchdringbar.

Haut, Leerstellen, Flackern, Lichtreflexe…
Nicht nur die Flächen erscheinen gebrochen, haltlos, bewegt – auch die Geschichten, die sich hinter einer imaginierten Situation oder deren
Protagonisten verbergen.
Das unfertige, ‚nicht- erklärte’, unaufgelöste Bild erzeugt meist Unbehagen oder Abwehr gar – aber hier manifestiert sich kein Statement,
daher entgeht die Künstlerin der Gefahr, dass der Betrachter sich abwendet oder sich ablehnend in die Offensive begeben will.
Die Anordnung der Fotografien als ‚serials’ täuscht vor „dass es irgendwie weitergeht“, aber fast unmittelbar auf diesen ersten oberflächlichen Eindruck
folgt Ernüchterung: Endstation – „Nichts geht mehr“.


So nah, aufdringlich nah drängt sich uns die Körperlandschaft, die torsohafte Gestalt entgegen, die Erhard Scherpf ins Visier genommen hat.
Ja, wir registrieren: Fleisch, Haut, Mensch…aber: Anfang? Ende? Bodenhaftung? Oder, um dieses vielgeliebte Wort der Kunstwissenschaft einzusetzen:
Verortung? Schwierig. Fraglich.

Da rücken wir so nah (– wollen wir das? –) und können es nicht greifen. Amphibienhaft, schwebend, schwimmend im begrenzten Bildformat
taucht eine weibliche Figur auf oder ein, in einen sie umgebenden, umfließenden Raum, der durch seine eigenartig grünlich- transparente Farbe
an das Element Wasser erinnert.
Sind die Hürden der ersten Einordnung genommen, erleben wir etwas Wunderbares, Einzigartiges: Die Haut – Schutz, Hülle, Grenze, Behälter – öffnet sich.

Mit der Exklusivität eines Naturwissenschaftlers durchdringen wir das limitierende Organ. Vergessen sind Normen, Ideale, Proportionen –
unser einziges Interesse gilt nun den Poren, Rillen, Rissen, Wölbungen, Einbuchtungen, Markierungen und Narben, die sich kontrastreich abheben
von der weichen, schmiegsamen, fließenden Materie.
Wie bei einer, zwischen zwei Glasplättchen fixierten, isolierten Mikroskop-Probe, Strukturen gigantisch vergrößert hervortreten, so erzeugt das Eigengewicht
des Körpers auf der Glasplatte die Illusion von maximaler Nähe – einigermaßen beunruhigt, sind wir verdammt (nur) zu schauen und möglicherweise erschreckt
über unsere Lust am voyeuristischen, intimen Schauen.

                    

Ich komme zum Schluss:

‚Künstlerische Aneignung!’ Die Wahrheit nicht verbergen - eine Form finden für ‚Da – sein’, für leibliche Anwesenheit…

Künstler spiegeln den Zustand einer Gesellschaft, die Stimmungen und Strömungen einer ganz bestimmten Zeit
und erschaffen neue Bilder – diese ‚Reflektionsbilder’ verstören, irritieren, schockieren, denn sie zerstören die Oberfläche,
auf der wir scheinbar so mühelos schwimmen.

Alles ist nur noch Oberfläche, Schönheit ist schöner Schein – inhaltslos und leer, glatt und unangreifbar.
Die hier in der Ausstellung präsentierten künstlerischen Positionen zeigen, was nicht sein darf, oder was verpönt,
als gesellschaftlich geächtet gilt – Tabus.

Die hochentwickelten Strategien der Gesellschaft zur Vermeidung von körperlichem Verfall stehen aktuell in der Kritik der Künstler.

Die Bilder hier wirken dem ‚eingeübten Reflex’ der voreingenommenen Wahrnehmung, dem flüchtigen Blick, entgegen –
sie verhindern die normale Ausweich- oder Fluchtbewegung.


Text: Copyright by Juliane Gallo, 2005