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Raum-Zeit-Verdichtungen / Geschwindigkeitserscheinungen / Dromovisionen

Ähnlich wie die Pioniere der von uns heute sog. "Fotografie" sich mühten, einen geeigneten Begriff zu finden:
pho/photos = Licht   und   graphein = schreiben
war es schwierig, für die anfänglich genannten "Raum-Zeit-Verdichtungen" ein neues Wort zu finden.

(In Unkenntnis zunächst, dass dies jemand schon lange vor mir getan hatte:
Paul Virilio, der Begründer der Dromologie = der Wissenschaft von der Geschwindigkeit.)

Versuche:
DROMOPHOTO  = das Geschwindigkeitslicht / das Licht der Geschwindigkeit
DROMOGRAMM = die Geschwindigkeitsschrift
phantasma = Erscheinung oder Trugbild -
oder phtisis (gr.) = das Schwinden

Die DROMOVISION bildete sich aus: dromos (gr.) der Lauf, die Geschwindigkeit
                                                und:  visio das Sehen / der Anblick / die Erscheinung
(von visio abgeleitet ist video = ich sehe

Dromovisionen sind also Geschwindigkeitserscheinungen
Sie sind der bildhafte Niederschlag von etwas, das sich verflüchtigt, das verschwindet, besser gesagt: von etwas,
was verflüchtigt wird, was zum Verschwinden gebracht wird, durch die Geschwindigkeit.
Die Dromovision ist das Produkt aus Kamera (1) und Automobil (2).

1. Die Kamera
ist die Maschine, die festhalten will, die dem Vergangenheit-Werden / dem Fluss der Zeit / ein Stück entreißen will,
(begreift man Zeit als in ständigem Fluss von Zukunft über Gegenwart zur Vergangenheit, also in der Modellvorstellung
die die mechanistische Weltanschauung sich gebildet hatte (linaear, objektiv).

2. Das Automobil, d. h. die Geschwindigkeit die es erzeugt, ist die Maschine, die die Verflüchtigung der Dinge
simuliert, die wir normalerweise als feststehend und unbeweglich erfahren.

Paul Virilio nennt das Auto auch das dromovisuelle Medium:
Mögliche Sinneseindrücke einer Landschaft, die wir durchfahren anstatt zu gehen oder zu durchlaufen, sind durch die
Geschwindigkeit der Fahrt auf das Visuelle reduziert. Das was "Erfahrung" genannt werden könnte ist nicht mehr
möglich. Die "Wirklichkeit" dieser Landschaft ist eine medial vermittelte.
Das Dromoskop (also das Automobil / das Fahrzeug allgemein) simuliert die Verflüchtigung, so wie das Teleskop ,
das Mikroskop, oder auch die Television, um bei der Ähnlichkeit zum Wort "dromovision" zu bleiben, die Nähe simuliert.


Die Ursachen der Bildersucht scheinen hauptsächlich darin zu liegen, dass wir glauben, Wirklichkeit habhaft werden
zu können, bzw. mit der Multiplikation durch Bilder scheinbar Unsterblichkeit , Todlosigkeit erlangen können.
Jedoch eben nur scheinbar: Die Sucht ist unstillbar!
Fotos verlangen nach immer mehr Fotos, so wie die Geschwindigkeit nach immer höherer Geschwindigkeit verlangt.
Der Technik scheint ein Zwang inne, ihre eigenen Antriebskräfte zu produzieren. Der Einsatz der Fotografie rechtfertigte
die hohen Reisegeschwindigkeiten - und umgekehrt.
Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Bilderhunger, der der Kultur der Stereo- und Panoramaaufnahmen
zu einer derartigen Blüte verhalf und schließlich, dank Kodaks Werbe-Slogan"You press the button, we do the rest",
die Fotografie zum massenhaft gebrauchten Medium machten, scheint bis heute nicht gestillt.

Das "Take your picture here!" ordnet dabei nicht nur die Welt, sondern markiert auch den Punkt an dem diese
abgefertigt wird, wo, so könnte man sagen, Erfahrung schon beendet ist, bevor sie beginnen kann.
Im "Das-muss-man-gesehen-haben!" scheint sich die Forderung eines "Initiationsritus" der modernen Tourismus-
gemeinschaft auszudrücken, die mit doppelter Schallgeschwindigkeit kreuz und quer über die Kontinente von einem
"point of interest" zum nächsten geschossen wird --- um jedes Mal dort wieder anzukommen, wo sie startete.

Mit der Austauschbarkeit / Ersatzbarkeit und ich bin geneigt zu sagen "Todlosigkeit" der Dinge und Orte,
die dadurch jeglicher Individualität beraubt wurden, hat sich auf der Seite der Reisenden die Gleichgültigkeit
breitgemacht, als Produkt der Unfähigkeit / Unmöglichkeit, sich auf das Hier-und-Jetzt, auf den jeweiligen Ort unserer
Anwesenheit, einlassen zu können.
Mit der Möglichkeit allem habhaft werden zu können, alles zu jeder Zeit erreichen zu können, hat den Reisenden eine
Unruhe überfallen, die das "Hier-undJetzt" sehr schnell banal erscheinen lässt und nur das "Anderswo", an dem
gleichzeitig oder in naher Zukunft etwas viel wichtigeres zu passieren scheint, verspricht Erlösung aus dieser Banalität.
Das Hier-und-Jetzt scheint nichts mehr zu gelten, das Anderswo alles. Dort angekommen, oder dem jeweiligen Ding
habhaft geworden, was das Gleiche ist: ein Konsum von Orten und Dingen als Waren, verspüren wir jedoch zugleich
die unersättliche Gier auf ein Neues / Anderes, nach erneutem Aufbruch zu einem neuen Anderswo.

Fernsehen und Autofahren sind sich, nicht nur was den beschriebenen Bilderrausch betrifft, sehr ähnlich.
Ganz allgemein betrachtet sind es beides Tätigkeiten, bei denen der Akteur / Voyeur alleine ist, oder die er nur mit
einer begrenzten Anzahl von Personen ausübt. Im Gegensatz dazu entspricht das Filmerlebnis im Kino
(Kino wird durch Film erst schön!) eher dem gemeinschaftlichen Reisen in der Eisenbahn, wo, selbst wenn man
alleine reist, die Anwesenheit anderer sofort spürbar ist. Der "individuelle" Film im heimischen TV verschleiert den
massenhaften Konsum. Der Tagesschau-Sprecher ist dann nur noch für mich ganz privat da.


Die Dromovision, das Produkt aus der Verbindung von Kamera und Automobil ist die bildgewordene Lust am
rauschhaften Verschwinden lassen der Bilder.
Aber es ist nicht nur die Lust am Bilder-Rauschen. Vor allem die Macht der Geschwindigkeit der Bilder bedingt, dass
der Blick die Gegenstände nicht mehr im Hin- und Wegsehen formen kann, sondern sich alles in einem Bilderbrei
auflöst, auflösen muss.
Welcher Zweckrationalität unser Sehen unterworfen wurde, welche Zwänge notwendig waren, damit wir uns heute mit
derartig hohen Geschwindigkeiten bewegen können / bewegen müssen, ist kaum zu ermessen.

Aber ich möchte nochmals auf die Lust am Bilderrauschen / die Lust an der (in der) Geschwindigkeit kommen:
Neben der physischen Eingebundenheit des Fahrers, neben der Vereinnahmung seiner Motorik durch die
Ordnungsprinzipien der Fahrzeugtechnik (und der StVO), scheint vor allem die Geschwindigkeit an sich eine Möglichkeit
zu eröffnen, - zu einer gesteigerten Selbstwahrnehmung und - gleichzeitig die Chance zu bieten, an nichts zu denken,
nichts zu empfinden, sich zu vergessen, ganz in der Fahrt aufzugehen.
Was zunächst wie ein Paradox klingt scheint als verbindenden Kern das Streben nach Momenten subjektiver
Zeiterfahrung zu haben, als einzig noch möglicher Moment zur Eigenwahrnehmung und zur Erfahrung von Zeit an sich,
die sich in ihrer linearisierten, verräumlichten Anschauungsform seit jeher jeglicher Anschauung und Erfahrung
entzogen hat.
Die subjektive Zeiterfahrung also, in der je nach den Umständen Zeit als stehend, schleichend oder rasend empfunden
wird, hat sich bei fast allen von mir beschriebenen Rauschzuständen als eines der treibenden Momente
herauskristallisiert. Im Streben nach einer harmonischen Verschränkung und Vermischung mit der als aussen
erfahrenen Umwelt (Subjekt // Objekt) -- mit welchen Begrifflichkeiten man hier operiert ist nur eine Frage des Diskurses --
ist das Ziel des sog. "Rausches" fast immer die Herstellung eines "zeitlosen" Zustandes, oftmals verbunden mit einer
maßlosen Beschleunigung.

(Die Fotografie - die Verewigung eines Augenblicks - lässt sich an dieser Stelle nochmals einordnen:
Das Foto scheint aus dem Zeitfluss, jenem Modell von Zeit, das sich unsere Kultur als Anschauungsform gebildet hat,
einen Punkt herauszunehmen, Dauer, d.h. Zeitlosigkeit zu verleihen. Die Bildersucht scheint so gesehen wie ein
Ansturm auf eine sich zunehmend fest-fügendere Zeitordnung.)


Dromovisionen sind der bildhafte Niederschlag von etwas, das sich verflüchtigt, das verschwindet, bzw. das durch
die Geschwindigkeit verflüchtigt wurde, zum Verschwinden gebrach wurde.
Sie sind die bildgewordene Lust am rauschhaften Verschwinden lassen der Bilder. Sie sind das Substrat der Gewalt
der Geschwindigkeit, sozusagen der Filtersatz, der vom Sog der Leere, der Gewalt der Geschwindigkeit und der
exzessiven Distanzen nicht fortgerissen wurde.
Das Glück der Reise als solcher scheint nicht im Erreichen eines bestimmten Zieles zu liegen, sondern in der
Reise-um-der-Reise-willen, darin, sich mit den endlosen Weiten eins zu fühlen.
Es ist die Chance als Autofahrer, der Wirklichkeit zu entkommen (scheinbar ein-Stück-weit), sich berauschen zu lassen,
einzutauchen in eine Flut von Bildern, die nichts als Leere zurücklässt -- durch Überschüttung mit reiner Fülle.
Kino, TV, die Bilderflut auf der Windschutzscheibe, ziehen den Blick fort und lassen die sich nicht mehr lösen
könnenden Augen wie im Krampf erstarren. Das gefrässige Auge droht zu erblinden.

Fahren, schreibt Baudrillard, ist eine spektakuläre Form von Amnesie. Der Triumph des Vergessens über das Gedächtnis.
Und gerade in dieser Leere scheint die Faszination zu liegen.


"Das Glück dabei gewesen zu sein" ist das Glück in der Geschwindigkeit aufzugehen, die Zeit zu vergessen.
Ein erinnerungsloser Rausch, geboren aus der Sehnsucht nach der unbeweglichen Umkehrbarkeit der Formen hinter
der Zuspitzung der Beweglichkeit.
"In-Bewegung-zu-sein ist alles" war schon das oberste Maxim der Beat-Generation der 50er Jahre, die kreuz-und-quer
durch die USA raste.
Den Sog, den jedes laufende TV auf unseren Blick ausübt, kann man vergleichen mit dem Sog, den ein endlos
geradeaus verlaufender Highway hat: du musst fahren. Stillstand oder gar eine Umkehr während der Fahrt sind undenkbar.

Wenn Fotografie und Geschwindigkeit zu Beginn unsere Wahrnehmung dahingehend strukturierten, dass die Kontinuität
einer Landschaft sich auf den zum Schnappschuss reduzierten Landschaftsausschnitt reduzierte, wir von der
ganzheitlichen Erfahrung abgeschnitten wurden, das Auge / der Blick mechanisiert wurden (panoramatischer Blick),
für den der Vordergrund / die Nähe keine Existenz mehr hatte), so summiert sich das Anschwellen der Momentaufnahmen
mit steigender Geschwindigkeit zum Rosa-Rauschen.
Rückstandslose Leere durch Überschüttung mit reiner Fülle!!!


Dromovisionen sind das Produkt aus Kamera und Automobil, bzw. Geschwindigkeit:
der Maschine, die festhalten will und dem Vergangenheit-Werden ein Stück entreißen will, und der Maschine,
die die Verflüchtigung der Dinge simuliert, die wir normalerweise als feststehend erfahren und die uns damit die
Möglichkeit gibt, an nichts zu denken, nichts zu empfinden, sich zu vergessen, ganz im Hier und Jetzt der Fahrt
aufzugehen.
Was geschichtlich mit der sog. Verflüchtigung, dem scheinbaren Verschwinden des Vordergrundes begann,
wo die Flüchtigkeit des Einzelnen erst die Wahrnehmung des Ganzen ermöglichte, wo der panoramatische Blick zu
neuen Sehnatur werden musste, sich der beschleunigte Wechsel der Perspektiven zur Bilder- und Szenefolge
ausgewachsen hat, schieben sich heute die Panoramen zusammen und löschen sich mit wachsender Geschwindigkeit
gegenseitig aus. Das Anschwellen der Momentaufnahmen summiert sich zum Rosa-Rauschen.
Die Bilderflut auf der Windschutzscheibe zieht den Blick fort und lässt die Augen wie im Krampf erstarren.

Dagegen überlässt der einäugige Kontrollblick der im Automobil fest installierten Kamera keinen Augenblick dem
Vergessen. Alle möglichen Bilder werden unterschiedslos gespeichert.
Die passiv registrierende Kamera besitzt ein lückenloses Gedächtnis mit beliebig variabler Aufnahmekapazität,
in dem alle Bilder aufgehoben sind. Damit wir uns umso besser / leichter dem Vergessen überlassen können,
uns dem Rausch der Geschwindigkeit und damit dem Bilderrausch hingeben können.

Wenn im trad. Verständnis von Fotografie mit dem Akt des Fotografierens Gegenwart in Vergangenheit,
in Ist-Gewesen verwandelt wird, scheint die im Fahrzeug nach vorne gerichtete Kamera noch ein Stück weiter zu greifen
und bereits die nahe Zukunft des Reisenden vorweg zu nehmen. Diese ist bereits Vergangenheit, bevor sie
den Augenblicksmoment der Gegenwart passiert.

Die Dromovision ist damit die Erinnerung an die Zukunft und das fast perfekte, weil rückstandslose Abbild
des Vergessens der Vergangenheit.

Das lückenlose Gedächtnis hat uns von der Notwendigkeit zur Erinnerung befreit,. Aber auch von der Möglichkeit


                                                                                                                                
Text + Fotos:© erhard scherpf, 2012