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Zeit im Bild

ISo wie die Eisenbahn das bis zu ihrer Erfindung bestehende und als selbstverständlich angenommene Verhältnis
von notwendigem Zeitaufwand für eine bestimmte zurückzulegende Wegstrecke völlig veränderte, so produzierte
auch die Fotografie eine völlig neue Zeiterfahrung, gemessen an der Schnelligkeit des Bildproduktionsprozesses
und der Komplexität des entstandenen Produktes. Der fotografische Prozess trieb, wie alle mechanisierten Abläufe,
den Prozess fortschreitender Abstraktion weiter voran.

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass der Fotografie keine Möglichkeit inne ist, Zeit und Dauer, die zu ihrer
Entstehung notwendig ist und als Belichtungszeit in das Foto eingeht, bildlich zu repräsentieren.
Eine Stunde, eine Minute, oder 1/125 -stel Sekunde Belichtungszeit für die Aufnahme eines Objektes sind weder
im Foto präsent, noch kann irgendein anderes Medium "Zeit an sich" darstellen. Das Vergehen von Zeit ansichtig
zu machen scheint mit Hilfe des Mediums Film ohne weiteres möglich, bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dies
jedoch als Illusion. Wir können lediglich einer "filmischen" Zeit ansichtig werden.
Das Abbild dieser sequentierten Zeit (24 Augenblicke pro Sekunde) ist im Malteserkreuz des Projektors symbolisch
präsent. In der Fotografie bediente man sich u.a. der Darstellung in Reihenaufnahmen (Muybridge, Marey, etc),
oder des Stroboskops (Edgerton u. a.), um den "Zeitfluss" anschaulich zu machen. Die vergangene Zeit lag dabei
jedoch nicht in sondern zwischen den einzelnen Aufnahmen bzw. den blitzartig erhellten Momenten einer
Bewegungsbahn.

Synchronzeit

Die Dauer der Belichtungszeit ist im Hinblick auf das zu fotografierende Objekt ebenso von entscheidender Bedeutung
wie die bereits beschriebene Richtzone, das fotografische Standard-Grau. Bewegt sich das Objekt vor der Linse relativ
zur Verschlussgeschwindigkeit (Belichtungszeit) zu schnell, wird es sozusagen unsichtbar, nicht abgebildet, da die
Dauer des Lichteindrucks zu kurz ist. Ist das Objekt jedoch zu langsam, und dauert der Lichteindruck zu lange, wird
das fotografische Abbild überbelichtet und das Objekt löst sich im Papierweiß auf.
Nach traditionellem fotografischem Verständnis gilt eine Aufnahme also immer dann als geglückt, wenn Objekt-
geschwindigkeit und Verschlussgeschwindigkeit nach Maßgabe des fotografischen Materials erfolgreich synchronisiert
werden konnten.


Fotografie parzelliert die Zeit

Wie die Eisenbahn die Zeit parzellierte, atomisierte, den Zwischen-Zeit-Raum zwischen Abfahrt und Ankunft
übersprang, produziert die Fotografie Augenblicke der Bedeutung und Zwischenräume der Leere, die, weil scheinbar
fotografier-unwürdig, dem Vergessen überlassen werden.
Ein Foto zu machen heißt immer, diesen Augenblick als einen besonderen aus allen vorhergehenden und nach-
folgenden Augenblicken herauszuheben und besondere Bedeutung zu verleihen.
Charles Baudelaire schreibt:" Ein Fingerdruck genügt, um ein Ereignis für unbegrenzte Zeit festzuhalten.

Der Apparat erteilt dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock."
"Fotografieren heißt Bedeutung verleihen.
Es gibt wahrscheinlich kein Subjekt, das nicht verschönt werden kann; und überdies gibt es keine Möglichkeit,
die allen Fotografien eigene Tendenz, ihren Sujets Wert zu verleihen, zu unterdrücken."
(Susan Sontag - Über Fotografie)


Fotografieren heißt: Zeit verdichtet erfahren

Ein Foto zu machen ist ebenso ein Akt, in dem Zeit sozusagen verdichtet erfahren wird. Im Moment der Belichtung
wird aus dem "Fluss der Zeit" ein Stück herausgenommen, dem "Vergangenheit-Werden" entrissen.

Roland Barthes beschreibt das Geräusch des Auslösemechanismus, "dieses kurze Klicken, welches das Leichen-
tuch der Pose zerreißt"
, als den "Klang der Zeit". Für ihn waren die fotografischen Apparate "Uhren zum Ansehen".

(Anm.: Als Fotografiestudent hatte ich in den 1980er-Jahren das Privileg, auch im Fachbereich Philosophie arbeiten
zu dürfen. Prof. Ullrich Sonnemann hat in seinem wunderbaren Seminar >Über das Wesen und Wirken einer
kantischen Verkennung des Ohrs< die These vertreten, Zeit sei
Anhörungsform, also keine Erfahrung des Auges,
sondern des Ohres.
Und auch Joachim-Ernst Berendt hat mit einer langen Reihe von CDs belegt: Das Ohr ist der Weg!)
Diesen Diskurs weiterzuführen würde jetzt jedoch den gegebenen Rahmen sprengen.

Bleiben wir bei der Fotografie:
Im Moment der Belichtung wird aus dem "Fluss der Zeit" ein Stück herausgenommen,
dem "Vergangenheit-Werden" entrissen.
Ebenso wird im Nebeneinander von Fotografien, in der Aneinanderreihung des Momenthaften - man nehme ein
Familienalbum zur Hand - deutlich, wie die Zeit zu springen scheint. Da außerdem auf Fotos eines Familienalbums
fast ausschließlich Ereignisse von je besonderer Bedeutung festgehalten werden, solche also, die die Ereignislosigkeit
des Alltags durchbrechen, dokumentiert sich darin auch die je eigene Zeiterfahrung und Zeitstrukturierung der
Fotografierten bzw. des Fotografen.
Das Foto markiert jeweils einen Zeit-Punkt, der Zeit in ein Vorher und ein Danach trennt, z. B. eine Geburt, eine
Hochzeit etc.


Fotografie parzelliert den Raum

Wie die Eisenbahn parzelliert die Fotografie den Raum. Sie schafft Orte der Bedeutung und Räume der Bedeutungs-
losigkeit. Dazu braucht man sich lediglich das Meer fotografischer Ansichtskarten von touristischen Sehens-
würdigkeiten, und im Nachvollzug dieser Vor-Bilder, die Urlaubsfilme der Knipser anzusehen.
Für den Fotografen, den fotografischen Blick, ist die Wirklichkeit eine Ansammlung unendlich vieler fotografier-würdiger
Orte. Die ganzheitliche Erfahrung des Reiseraumes ist ein Opfer der visuellen Repräsentation des zum dramatischen
Augenblick geronnenen Landschaftsausschnittes auf dem Schnappschuss geworden.


Fotografie schafft ein Bewusstsein für Vergänglichkeit

Die Fotografie schafft ein Bewusstsein für Vergänglichkeit. Das, was auf dem Foto abgebildet ist, muss in der Zeit
existiert haben. Das Foto, die Repräsentation eines Objektes im Stillstand, bringt also Gewesenes zur Ansicht.
Es ist ein Zeichen der Abwesenheit und mit dem "Ist-Gewesen" ist auch bereits der Verlust bezeichnet.

"Fotografie erzeugt nicht das Bewusstsein des Daseins des Gegenstands (…) sondern des Dagewesen seins.
Wir stoßen hier auf eine neue Kategorie des Raum-Zeit-Verhältnisses. Räumliche Präsenz bei zeitlicher
Vergangenheit, eine unlogische Verbindung des Hier und Jetzt mit dem Da und Damals. (…)
Ihre Realität ist die des Dagewesen seins, denn jede Fotografie legt eine staunenerregende Evidenz über das
"So war es" ab….!",
schreibt Roland Barthes über die Rhetorik des Bildes.

Der Charakter des "Dagewesen seins" wird bei alten Fotos auch und vor allem dann sinnfällig, wenn der Papierträger
oder die Silberschicht zerfallen, verblichen oder zerkratzt sind. Und um Susan Sontag noch mal zu zitieren:
"Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit
und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen Moment herausgreifen und
erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Fließen von Zeit ."


Fotografie verewigt den Augenblick

Die Fotografie verewigt den Augenblick. Darin liegt jedoch auch eine Strategie zur Negierung von Zeit.
Im Foto wird das Vergängliche der Ereignisse, ihre Bewegung, in einen Stillstand umgedeutet.
Ein Punkt wird aus dem Raun-Zeit-Kontinuum herausgelöst und damit dem Verfall, dem Vergessen-Werden, entzogen
Fotografieren ist der Versuch, die Angst vor dem Vergessen zu bannen. Dem fotografischen Abbild scheint eine Dauer
mmanent, die real keine Einlösung erfährt.
Über den "Charme der Fotoalben" schreibt Andre Bazin:
"…sie sind die aufregende Gegenwart des in seinem Ablauf angehaltenen Lebens, … . Die Fotografie balsamiert
die Zeit ein. ….sie schützt sie einfach vor ihrem eigenen Verfall."

Es ist jedoch eine relative Dauer, deren zeitliche Dimensionen sich aus den gesteigerten Geschwindigkeiten bestimmt
Roland Barthes schreibt, die Fotografie mit dem Denkmal als dem Ewigen, der Erinnerung, dem Ersatz für das Leben,
das den Tod zum Ausdruck brachte und selbst Unsterblichkeit erlangte, vergleichend, dass die Fotografie durch den
verhältnismäßig schnellen Verfall des Bildträgers uns eher darauf vorbereitet "eines bald nicht mehr fassen zu können,
weder affektiv noch symbolisch --- die Dauer."


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