Erhard Scherpf  I  Fotografie etc.  I    Freie Arbeiten  I  Ausstellungen + Projekte  I   Vita   I  Links  I  Impressum  I

I  Tote Tiere  I  Körperbilder  I  Bewegungsstudien  I  Dromovisionen  I

I  Exposé  I  Dromovisionen 4   Dromovisionen 3  I  Dromovisionen 2  I  Dromovisionen 1  I  Texte  I


Wirklichkeit und Wahrheit der Fotografie

Welche Beziehung hat die Fotografie / das Abbild / das Bild / grundsätzlich zur Wirklichkeit? Worin besteht die
Ähnlichkeitsbeziehung?
Bekanntermaßen verstanden sich die ersten Fotografen als Nachbildner, als unbeteiligte Beobachter, ohne jegliche
Einflussnahme auf den Prozess der Bildentstehung. Die Natur schrieb ihrer Meinung nach ihre Biografie selbst.
Mit der Fotografie schien der Zeichenstift der Natur entdeckt, das Bild entstand allein durch die Kraft des Lichtes, usw.
Am fotografischen Verfahren wurde die Exaktheit und Objektivität, seine Realitätstreue und Unbestechlichkeit, kurz,
seine Wahrheit gelobt. Grundsätzlich ist festzustellen: Im Moment des Fotografierens, für die Dauer der Belichtung ,
besteht eine physikalische Beziehung zwischen Objekt und lichtempfindlicher Schicht. Lichtstrahlen werden vom
Objekt reflektiert und fallen durch das Objektiv auf die Platte. Diese Beziehung wird manifest im Abbild.
Zunächst latent und nach dem chemischen Entwicklungsprozess konkret, fixiert.

Roland Barthes spricht von einer "Nabelschnur aus Licht" zwischen Vergangenheit und Gegenwart, von einem
"Lichttransfer über einen Zeitgraben"., als Grundprinzip der Fotografie und bezeichnet das fotografierte Objekt als die
"notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war, und ohne die es keine Fotografie gäbe."

Zur Ontologie des fotografischen Bildes und zum Anspruch der Fotografie auf Objektivität schreibt André Bazin:
"Welche kritischen Einwände wir auch immer haben mögen, wir sind gezwungen, an die Existenz des repräsentierten
Objektes zu glauben, des tatsächlich re-präsentierten, d. h. des in Raum und Zeit präsent gewordenen.
Die Fotografie profitiert aus der Übertragung der Realität des Objektes auf seine Reproduktion".


Fotografie und Realität sind also auf dieser, und nur auf dieser Ebene untrennbar miteinander verbunden.


Die Wahrheit der Fotografie

Wie sieht es mit der Wahrheit der fotografischen Abbildung aus?

Wird ein und dieselbe Sache von verschiedenen Personen fotografiert, entstehen verschiedene Ansichten --- eine
Erkenntnis, die sehr früh in der Geschichte der Fotografie den Glauben an das unpersönliche, objektive Bild der
Kamera erschütterte.
Fotografie gibt also nicht nur das wider, was war, als Repräsentation von Wirklichkeit, sondern vor allem das, was der
Fotograf dort sah. Sie repräsentiert eine Möglichkeit der Sicht der Welt. Das Bild ist mithin nicht nur Dokumentation,
sondern Interpretation, Wertung, von Wirklichkeit, ganz gleich, wie zweckfrei, rein, straight, oder dokumentarisch,
Fotografen in der Geschichte bis heute ihre Arbeit auch immer versucht haben zu bestimmen.
Mit der Entscheidung, einen bestimmten Ausschnitt, eine bestimmte Kameraeinstellung allen anderen vorzuziehen,
stülpt der Fotograf den Dingen seine (kulturell oder ideologisch oder sonst wie bestimmten) Kriterien über.
Unabhängig von ihrem Abbildcharakter, der physikalischen Beziehung zwischen Objekt und Bild, wechselt die
Aussage einer Fotografie mit dem Wechsel ihrer sozialen Gebrauchsweisen:

Was für mich das Foto einer Geliebten darstellt, das zu repräsentieren scheint, was sie zu dieser macht, ist als
gleiches Foto Objekt eines rein technischen Interesses z. B. in Zusammenhang mit anderen Fotos in einer Ausstellung
über Portraitpraxis, ist als gleiches Foto zu analysierendes Objekt für einen Schönheitschirurgen oder einen Visagisten,
ist also Foto in der Hand des Staatsapparates Bild einer zu überwachenden Person, etc., etc., ….. .

Wird das Foto schließlich in verschiedene Textzusammenhänge eingebettet oder in Zusammenhang mit anderen Bildern
gebracht, wird es gänzlich zur "Hure", sind der Willkür in der Definition neuer Realitäten keine Grenzen mehr gesetzt.
Eine Fotografie kann also nie eindeutige Aussagen über die Wirklichkeit machen. Eindeutig ist sie lediglich in dem
Kontext, in dem sie genutzt wird.

Auch wenn das Foto ein Äquivalent in der Realität haben muss und die Autonomie der Bildherstellungstechnik uns absolut
realistische Bilder verspricht, garantiert, liefert uns der fotografische Apparat doch nur Zeichen, die sich jeglicher
Eindeutigkeit von dem Moment an entziehen, in dem das Foto aus seinem Entstehungszusammenhang gelöst wird.
Dem eben hergestellten Polaroid-Foto einer Person, die mir gegenüber sitzt, kommt größtmögliche Authentizität zu,
da die Reproduktion unmittelbar in reale Erfahrung rückübersetzt werden bzw. durch reale Erfahrung ergänzt werden kann.
Das Abbild als solches zu identifizieren, seine Übereinstimmung mit meinem realen Gegenüber zu beurteilen,
ist unzweideutig möglich, da ich das Abbild noch sehe und eine Beziehung zwischen diesem und dem Abbild unmittelbar
herstellen kann. Dies ist auch "das Glück dabei gewesen zu sein".

Unser alltäglicher Umgang mit fotografischen Bildern unterscheidet sich jedoch wesentlich, grundlegend, von der
geschilderten Situation. Die Masse der täglich in unsere Augen eindringenden medialen Bilder sind von unseren
Erfahrungen gänzlich abgetrennte Bilder von noch weniger zugänglichen raum-zeitlichen Wirklichkeiten.

Wir hatten festgestellt, dass die physikalische Beziehung eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Abbild und abgebildetem
Objekt zu zeitigen scheint. Doch trotz der bisher beschriebenen Zurichtungen, die die Wirklichkeit in ihrer Abbild-Werdung
erfährt --- nicht zu vergessen den Ausschnitt, die Schärfe, die Verkleinerung, das Diktat des Standard-Grau, also all die
Regeln nach denen die Wiedergabe der Wirklichkeit gebeugt werden muss --- trotzdem sitzen wir dem wertfreien,
wissenschaftlichen, Wahrheitsanspruch der Fotografie noch immer auf.

Beruht es nicht eher auf einer gesellschaftlichen Übereinkunft, dass wir das Foto als Zeichen für das Abgebildete
anerkennen? Um seinen Mitteilungsfunktion erfüllen zu können, um als Zeichen auch erkannt und gelesen werden zu
können, um also nicht nur Auskunft über die Existenz der Welt, sondern auch über ihre Beschaffenheit geben zu können
(das ist ja der Anspruch), ist nicht nur die Kenntnis der Fotogrammatik notwendig, sondern ein System weiterer kultureller
oder ideologischer Setzungen, die wir kennen müssen.

"Wenn wir auf dem Foto ein bestimmtes Objekt als Stuhl identifizieren, dann ist das Bild ein visuelles Symbol, das einer
Konvention entsprechend für Objekte wie Stühle als Zeichen dient"
, schreibt Manfred Schmalriede über "Photorealitäten" .
Ist den Bildern keine durch diese Setzungen eindeutige Symbolik inne, ist der Betrachter also für die Deutung der Zeichen
und für die Schlussfolgerungen aus ihren Beziehungen untereinander alleine zuständig und sich selbst überlassen
(natürlich nicht freischwebend und losgelöst im gesellschaftlichen Hohlraum), könnte die Mehrzahl der auf uns einstürzenden
Bilder kaum entschlüsselt werden.
Deshalb, damit wir die Bilder auch "richtig" lesen, werden die notwendigen Interpretations-"Angebote", wie Nachrichten-
zusammenhänge, Schlagzeilen, Bildunterschriften, Zusammenhänge, in die das Bild eingebettet ist und die als vertraut und
bekannt vorausgesetzt werden können, gleich mitgeliefert.
Deutlich wird dies am Beispiel der wissenschaftlichen Fotografie, bei der gewissermaßen immer die gesamte Versuchs-
anordnung mitformuliert werden muss, damit die betreffenden Bilder verstanden werden können.

Die Fotografie kann also aufgrund ihrer kurzzeitigen physikalischen Beziehung zur Wirklichkeit und der daraus resultierenden
Ähnlichkeitsbeziehung keinen Wahrheitsanspruch stellen.

"Fotografie ist falsch auf der Ebene der Wahrnehmung, aber wahr auf der Ebene der Zeit." Roland Barthes bezeichnet damit
noch einmal die einzige Gewissheit (das "Noema"), die Fotografie über "die notwendig reale Sache" herstellt.

Trotzdem scheint diese Wirklichkeit seit fast 150 Jahren nur wenige Millimeter hinter der Silberplatte,dem Fotopapier,
der Zeitungsseite, der Filmleinwand oder dem häuslichen Bildschirm zu beginnen.
Je mehr der Glaube wuchs, die Kenntnis gewisser visueller Aspekte der Dinge sei gleichbedeutend mit ihrer Kenntnis
überhaupt, umso überzeugender gelang die scheinbare Verdopplung der Welt in den Medien. Und umgekehrt.

Dass das Vorhandensein sichtbarer Wirklichkeit für das fotografische Bild durch die technischen Möglichkeiten der digitalen
Fotografie und der Bildbearbeitung nicht mehr notwenige Bedingung ist, bedeutet so gesehen nur noch einen kleinen Sprung
in der Geschichte von Produktion und Rezeption.

Copyright © Erhard Scherpf